Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen. – Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Es war im April 2017 und ich hatte Zahnschmerzen. Ich habe nicht besonders gute Zähne. Aber Erfahrung mit Zahnschmerzen habe ich trotzdem sehr wenig. Ich drehe den Kopf von links nach rechts. Es wird nicht besser. Ich kann nicht schlafen, laufe im Wohnzimmer wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Es ist schlimm. Der Schmerz ist schlimm. Er ist seit einigen Wochen da, kommt und geht, klopft an, pocht, zieht und jetzt bringt er mich zur Verzweiflung. Ich erinnere mich an die Zahnschmerz-Geschichte von Ajhan Brahm aus dem Buch „Die Kuh, die weinte“. Ich habe diese Geschichte zahlreiche Male vorgelesen; in meinen Yogastunden und meinem Sohn, als er Schmerzen hatte. Bei meinem Sohn hatte das alleinige Vorlesen dazu geführt, dass seine Schmerzen sich aufgelöst haben. Allerdings hatte mein Sohn damals keine ZAHN-Schmerzen. Ich ächze und stöhne.
Dies hier ist schlimmer als Kinderkriegen.
In der Geschichte von Ajahn Brahm geht es darum, den Zahnschmerz radikal anzunehmen, ohne dass man ihn loswerden möchte, ohne dass man mit ihm verhandelt: „Schmerz, die Tür zu meinem Herzen steht dir offen, ganz gleich, was du mir antust. Tritt ein.“ Ich habe nicht das Gefühl, dass der Schmerz irgendwo anders eingetreten ist als in meinen Zahn und meinen gesamten Kopf. Ich glaube, die Tür zu meinem Herzen blieb dem Zahnschmerz verschlossen. Am Samstag, 22. April, sitze ich in der Zahnarzt-Notfallpraxis. Es war der Tag der Übergabe mit der Vermieterin unseres alten Hauses, deswegen erinnere ich mich an das Datum. Ich weiß, dass ich nicht die Freundlichkeit in Person war den anderen Menschen gegenüber in dieser Zeit. Und auch nach dem 22. April bekam ich noch einige Male die Gelegenheit, dem Schmerz die Tür zu öffnen und mit Begriffen wie Wurzelbehandlung und Wurzelspitzenresektion vertraut zu werden.
Ich konnte Wurzelspitzenresektion definieren, aber ich glaube nicht, dass ich dem Schmerz die Tür zu meinem Herzen geöffnet hatte.
Aber das Schöne im Leben ist ja, dass man fast immer eine zweite Chance bekommt. Die Wurzelspitzenresektion war durchgeführt, der Schmerz vorbei. Das war irgendwann im Mai und dann vor einigen Wochen: Zahnschmerzen! auf der anderen Seite. Wenn ich abends im Bett lag, begann der Schmerz anzuklopfen, genau wie im April. Er kam und ging. Ich war bei der Zahnärztin. Eigentlich sah alles ok aus, sagte sie.
An einem Montag-Nachmittag während einer Meditation im MBCT-Kurs in Bonn nahm ich meinen Mut zusammen und trug den Zahnschmerz vom Kopf in mein Herz. Genauso fühlte es sich an. Es war, als würde ich ihm kurz einfach ein: „Ok, komm rein!“ zuflüstern. Und dann war es mit einem Male, als würde sich eine festgefahrene Geschichte lösen und in ihre Einzelteile zerfallen. Und diese Einzelteile waren einfach nur Gefühle; eine Gemengelage an Gefühlen, die noch nicht einmal benannt werden wollten, sondern einfach nur gefühlt werden wollten. Und wenn ich es doch beschreiben wollte, dann würde ich sagen eine Mischung aus Glück, Sehnsucht, Hingabe, Verlangen, Schuldgefühlen und Heimweh. Und es lag nichts persönliches darin und nichts psychologisches. Und obwohl es sich natürlich sehr individuell anfühlte und verknüpft war mit Ereignissen und Personen meines Lebens, war es, als würde ein uraltes menschliches Lied die Seiten meines Herzens zum Klingen bringen. Diese Erfahrung dauerte nicht lange an. Die Zeit war egal. Und seither sind die Zahnschmerzen verschwunden.