In den letzten Wochen habe ich über folgendes reflektiert:
Vielleicht sind wir in den letzten Jahren oder Jahrzehnten ziemlich tolerant geworden, wenn wir auf Menschen treffen, die ganz offensichtlich anders sind, weil sie vielleicht eine andere Hautfarbe haben, aber was ist mit Menschen, deren Andersartigkeit wir nicht auf den ersten Blick erkennen?
Was ist mit der Person, die uns bei einer Unterhaltung nie in die Augen schaut, sondern nur zu Boden? Was ist mit der Person, die uns nicht antwortet und sich wegdreht, wenn wir sie etwas fragen? Was ist mit der Person, die uns in einem Satz schonungslos ihre Meinung über unsere Frisur kundtut? Was ist mit der Person, die sich darüber aufregt, dass wir zu viel Milch in unseren Kaffee schütten? Nehmen wir dieses Verhalten persönlich und beziehen es auf uns und beklagt sich unser zerbrechliches Ego weinerlich?
Wir wissen nicht, wie es im Geist und im Herzen der Person aussieht, die wir vielleicht ganz schnell und unwillkürlich als unhöflich abgestempelt haben. Vielleicht wissen wir nicht, dass diese Person dem angehört, was die Psychologen und Psychiater Autismus-Spektrum nennen. Vielleicht wissen wir nicht, dass diese Person eine Wahrnehmung der äußeren und inneren Welt hat, die sich wahrscheinlich grundlegend von dem unterscheidet, wie wir die Welt wahrnehmen. Und wahrscheinlich wissen wir nicht, dass diese Person mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einen Leidensweg hinter sich hat und dass die Interaktion mit uns sich für diese Person vielleicht anfühlt wie das Sprechen in einer unbekannten Fremdsprache. Und ist uns bewusst, dass der Leidensweg der Person verursacht wurde nicht nur durch die Problematiken, die direkt durch den Zustand des Autismus hervorgerufen werden, sondern zu einem Großteil durch unsere Reaktionen auf das Anderssein; durch die Intoleranz unserer Gesellschaft?
Warum ist vielen von uns das so wenig bewusst? Gibt es zu wenig Aufklärung über Autismus? Oder haben wir uns zu wenig interessiert?
Dabei sprechen viele Fakten über Autisten eine dringende Sprache und machen deutlich, dass eine Veränderung unserer Verhaltens unaufschiebbar sein muss.
Es gibt beispielsweise sehr viele Hinweise darauf, dass Depression und Angsterkrankungen gehäuft auftreten bei Menschen im Autismus-Spektrum. Die genauen Zahlen scheinen jedoch wenig erforscht, wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil die Diagnose häufig schwer fällt.
Alarmierend ist zudem, dass ein Suizid bei autistischen Jugendlichen 28 Mal wahrscheinlicher ist. Aufgrund dieses Umstands haben Autisten eine um 18 Jahre geringere Lebenserwartung. Das erhöhte Suizid-Risiko wird vor allem auf soziale Faktoren zurückgeführt.
In seiner Rede vor den Vereinten Nationen in New York vertrat Professor Simon Baron-Cohen, einer der weltweit führenden Autismus-Experten, vor einem Jahr die Ansicht, dass grundlegende Menschenrechte für autistische Menschen nicht eingehalten werden. „Menschen mit Autismus bilden eine beachtliche Minderheit der weltweiten Bevölkerung. Und doch lassen wir sie in so vieler Hinsicht im Stich.“
Es kursieren viele Vorurteile und schmerzhafte Missverständnisse um Menschen mit Autismus. Eines der eklatantesten ist die Ansicht, dass Menschen mit Autismus keine Gefühle haben und eher wie Roboter funktionieren. Dabei haben Menschen mit Autismus genau wie alle anderen Gefühle (und ich persönlich glaube, dass sie bei weitem sensibler und feinfühliger sind als der Durchschnitt), aber es fällt ihnen schwer diese einzuordnen und zu kommunizieren. Ein Gehirn, das dem Autismus-Spektrum zuzuordnen ist, nimmt die Welt auf eine andere Art wahr: intensiver, ungefilterter, detaillierter und schutzloser. Oft besteht das Problem der sensorischen Empfindlichkeit, das bedeutet, das alltägliche Reize nicht oder nur wenig gefiltert werden und so eine Vielzahl von Wahrnehmungen ungefiltert auf die Person einströmen. Dies kann einen tiefgreifenden Effekt auf das Leben der Person haben. Viele der Eigenschaften, die in der öffentlichen Wahrnehmung als Symptome der „Störung Autismus“ gelten (wie z.B. repetitive und stereotype Verhaltensweisen), sind schlicht ganz normal menschliche Reaktionen auf enormen Stress. Und dieser Stress wird ausgelöst durch die Flut an ungefilterten Reizen, denen die autistische Person ausgesetzt ist.
Es wird Zeit, dass das Autismus-Spektrum mehr in die öffentliche Wahrnehmung rückt, dass wir mehr Aufklärung bekommen. Wenn wir Eltern autistischer Kinder zuhören, dann sehen wir, dass viele aufgrund des harten Kampfes um Unterstützung und Akzeptanz der Verzweiflung nahe sind.
Das Buch „The reason I jump„, geschrieben von Naoki Higashida, einem 13-jähriger autistischen Junge, drückt aus, wie sich die Tiefen der autistischen Wahrnehmung darstellen. In diesem Buch liegt ein unerwarteter und kraftvoller Zauber, und ich möchte es jedem, der sein Verständnis über das menschliche Dasein revolutionieren möchte, dringend empfehlen. Und folgende Sätze haben sich mir sehr eingeprägt: Wir wissen, dass wir euch traurig und ärgerlich machen, aber es ist so, als ob wir keinen Einfluss auf unser Verhalten hätten […]. Aber bitte, was immer ihr tut, gebt uns nicht auf. Wir brauchen Eure Hilfe.
Ich glaube, es ist wichtig, sich folgendes deutlich zu machen: Wenn wir von Autisten sprechen, dann sprechen wir von Menschen, die in Experimenten zu moralischen Dilemmas länger als ihre neurotypischen Gegenüber zögerten, bevor sie einem anderen Menschen Schaden zufügten. Wir sprechen hier von Menschen, denen Wahrheit und Ehrlichkeit ein Grundbedürfnis ist. Wir sprechen von Menschen, die sich nicht beeindrucken lassen von Status und Dünkel anderer. Wir sprechen von Menschen, die selten Vorurteile hegen Personen gegenüber, die anders sind. Wir sprechen von Menschen, die es mit Leichtigkeit schaffen, sich dem Herdentrieb zu widersetzen, wenn sie moralisch mit etwas nicht einverstanden sind.
All dies sind Eigenschaften, die unsere von Gier und Dünkel geprägte Gesellschaft so dringend nötig hat. Und ich glaube, dass all dies Eigenschaften sind, die unsere Gesellschaft heilen könnten.
Wenn ich eines in meiner Meditationspraxis gelernt habe, dann dass man jeden Gedanken umdrehen kann und das Gegenteil meist genauso wahr oder wahrer ist. Und deswegen möchte ich inständig folgende Bitte aussprechen:
Liebe Autisten, was immer ihr tut, gebt uns nicht auf. Wir brauchen Eure Hilfe. Wir brauchen Eure Hilfe, um unsere Doppelzüngigkeit und unsere Intoleranz aufzudecken und um unsere Projektionen sichtbar zu machen.
Und wenn wir in der Zukunft Autismus mehr als ein Persönlichkeitstyp betrachten als eine Krankheit, wenn wir beginnen, das Andersartige zu integrieren und aufhören, es anpassen und in Formen pressen zu wollen, dann lenken wir unsere Welt vielleicht ein bisschen mehr in die richtige Richtung. Und vielleicht verstehen unsere Herzen dann, was Naoki Higashida uns sagt, wenn er schreibt:
Obwohl Menschen mit Autismus körperlich aussehen wie andere Menschen, sind wir in Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht sehr verschieden. Wir sind eher wie Reisende aus der fernen, fernen Vergangenheit. Und wenn, durch unsere Anwesenheit hier, wir den Menschen dieser Welt helfen können, sich zu erinnern, was wirklich wichtig ist für diese Erde, dann würde uns das mit stiller Freude erfüllen.